Der Mann im eleganten Anzug und wegen einer Fußverletzung auf Krücken gehend, wandte sich im September 2001 an den Portier des Palais Modena in der Wiener Innenstadt, dem Sitz des Bundesministeriums für Inneres (BMI). Er sei vom Verteidigungsministerium ins BMI versetzt worden, um die Staatspolizei zu reformieren. Der Portier schickte den Besucher zur Gruppe Staatspolizei, auch dort wusste man nichts von der Versetzung.
Als der damalige Leiter der Gruppe Staatspolizei die wenigen Zeilen auf dem Versetzungsformular las, ahnte er, dass seine Tage als Chef der österreichischen Staatspolizei gezählt waren. Der „Neue“ war Oberstleutnant Dr. Gert-René Polli, bis dahin sicherheitspolitischer Analyst im Heeres-Nachrichtenamt (HNaA). Er wurde von Innenminister Ernst Strasser in das BMI geholt. Im Dezember 2002 war die Reform umgesetzt. Es entstand das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) mit Polli als erstem Leiter.
Mit seinem Wechsel in das BMI begann für den ehrgeizigen Berufsoffizier des Bundesheeres eine abenteuerliche Fahrt auf einer Hochschaubahn der österreichischen Innenpolitik. Nachdem ihm zu freundliche Kontakte zu weniger befreundeten Diensten vorgeworfen worden waren, wurde Polli 2008 als BVT-Direktor nicht mehr wiederbestellt. Er musste erkennen, dass er im Kabinett des Innenministers das Vertrauen verloren hatte. Bewusst kolportierte Gerüchte, wonach US-Geheimdienste seine Ablöse forcierten, wurden in den Medien gestreut. Polli ließ sich als Beamter karenzieren und wurde Leiter der Konzernsicherheit von Siemens in München. Auch dort zerstörten längst geklärte Gerüchte, befeuert von anonymen Anzeigen aus Österreich rund um seine Kontakte in den Iran, seine neue Karriere.
Nun hat der ehemalige BVT-Chef über sein Leben und seine beruflichen Tätigkeiten ein Buch geschrieben. Ein großer Teil des Werks enthält Biografisches über den aus Kärnten stammenden Autor und einen Einblick in mehrere „Welten“: die Gründung und die ersten Jahre des BVT, dessen Rolle in der internationalen Intelligence-Community, den „Berner Club,“ die Interessenslage und Entscheidungsgestaltung im Innenministerium und über den Einfluss der USA auf die österreichische Innenpolitik. Der Autor schildert das Verhältnis zwischen HNaA und BVT aus seiner Sicht und bietet Hintergrundinformationen, zum Teil verpackt zwischen den Zeilen. Detailreich schildert Polli seine Gedanken und Eindrücke auf dem Jakobsweg, einer Reise, die er im Buch immer wieder aufgreift.
Polli kritisiert mitunter, meistens zwischen den Zeilen. Die Hausdurchsuchung im BVT-Gebäude sei ein schwerer Fehler gewesen und habe zu einer Vertrauenskrise bei den europäischen Nachrichtendiensten geführt. Er rechnet ab, etwa mit dem früheren CIA-Residenten in Wien, der zweimal seine berufliche Karriere gestoppt haben soll. Dem Wirken des damaligen Nationalratsabgeordneten und Aufdeckers Peter Pilz widmet der Autor ein eigenes Kapitel. Polli berichtet auch über einige Geheimdienstoperationen im Ausland mit Österreich-Bezug. Einige Phasen seines Lebens lässt er aus, etwa die beiden „intensiven, spannenden und interessanten“ Jahre mit seiner zweiten Frau in Bodrum. Diese Zeit habe er „noch nicht verarbeitet“; sie würde „Stoff für ein eigenes Buch“ bieten. Alle beschriebenen Handlungen, Personen und Zeitabläufe könnten, müssen aber nicht genau so passiert sein, merkt der Autor eingangs an; wohl eine rechtliche Vorsichtsmaßnahme. Pollis neues Buch ist zeitgeschichtlich interessant, weil er einen Einblick in die Welt der geheimen Dienste bietet, die der Öffentlichkeit meist verborgen bleibt.
Gert-René Polli: Schattenwelten. Österreichs Geheimdienstchef erzählt. Ares-Verlag, Graz, 2022.
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